Der Innere Kritiker

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Bevor du sprichst, lasse deine Worte durch drei Tore schreiten.
Beim ersten Tor frage: „Sind sie wahr?
Am zweiten frage: „Sind sie notwendig?
Am dritten Tor frage: „Sind sie freundlich?““
Rumi

Ilsebill, meine innere Kritikerin

Vor einiger Zeit habe ich ein Gedicht von Marianne Williamson gelesen, das mich sehr berührt hat. Der erste Vers begann so:

Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind, ….

„Ist das wirklich so?“, fragte ich mich. Fürchte ich mich vor meinen Unzulänglichkeiten?

„Hmm…“ Es ist eher ein tiefes Gefühl von Scham und ertappt worden sein, was ich bei meinen Fehlern und Schwächen empfinde. Und dank meiner inneren Kritikerin sind mir meine Unvollkommenheiten oft präsent.

Voreiniger Zeit z.B. als ich mit meiner Tochter einkaufen war und sie mit ihren zarten 15 Jahren all diese schönen bauchfreien T-Shirts anprobierte, dachte ich mir: „In meinen wildesten Träumen würde ich nicht in diese Outfits passen.“ Meine innere Kritikerin, die ich übrigens Ilsebill1 nenne, meldete sich sofort zu Wort: Du hast recht! Außerdem hast Du keine wilden Träume.

Denke ich daran, wie schön es wäre, alle die schönen persischen Anekdoten, Zitate und Geschichten auf Deutsch zu übersetzen, sagt Ilsebill: Du schreibst auf Deutsch ähnlich wie ein Auto, das auf dem Feldweg fährt.
Möchte ich ein Trainingsprogramm zusammenstellen, sagt Ilsebill: Das ist kalter Kaffee. Erstens gibt es das schon. Zweitens ist es nicht Originelles.

Lange Zeit, als meine innere Kritikerin noch nicht Ilsebill hieß, machte sie mir große Angst.

Sie ist nicht nur eine, die meckert und nörgelt, sie verkündet ihre Kritik auch noch von oben herab und unumstößlich. Es spielt keine Rolle, was ich erreicht habe. Meiner inneren Kritikerin reicht es einfach nicht. Wenn ich ihre Stimme hörte, erstarrte ich vor Scham und Angst.

Aber wer oder was ist die innere Kritikerin? Wir kennen sie alle.
Sie ist die Stimme, die all unsere Schwächen kennt und sie dazu noch laut und gut vernehmbar in unserem Kopf kommentiert/verkündet. Spätestens jedoch an unserer eigenen emotionalen Reaktion erkennen wir sie:
Wir sind niedergeschlagen, schämen uns für unsere Missgeschicke und verfallen in eine Art innere Starre.

Dr. Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der Universität von Texas in Austin, meint dazu: Wenn wir uns fortlaufend kritisieren, haben wir stets einen hohen Stresslevel, da wir uns physiologisch gesehen, gleichzeitig als Jäger und Beute fühlen.

Eine Theorie in der Psychologie besagt, dass innere Kritiker verinnerlichte Elternteile aus unserer Kindheit darstellen, die uns vor negativen Erfahrungen bewahren wollten. Für mich gesprochen, erklärt diese These präzise meine Erfahrung mit meiner eigenen inneren Kritikerin.

Mittlerweile habe ich eine relativ gezähmte Beziehung zu meiner inneren Kritikerin entwickelt. Ich habe erkannt, dass es keinen Sinn hat, sie zu ignorieren oder zu unterdrücken. Sie teilt sich zwar immer noch auf eine sehr eigene Art und Weise mit, aber ich weiß, dass sie es nicht böse meint mit mir. Dank ihr ist mir sogar die eine oder andere peinliche Situation erspart geblieben. (Bauchfreie T-Shirts sind echt nichts für mich 😊)

Ich versuche, ihren Ton zu ignorieren und das, was sie beunruhigt zu identifizieren. Sie ist für mich zu einer Art Alarmsignal geworden, das zwar schrill ertönt, mich aber im Grunde nur warnen will.

Das erste was mir half dieses neue Verhältnis aufzubauen, war der Wille aus der Schockstarre heraus zu kommen. Ich wollte mich nicht mehr hilflos gegenüber den Attacken dieser übermächtigen Stimme fühlen. Dazu suchte ich zunächst einen passenden Namen für meine innere Kritikerin. Dies kann eine Zugespitzten Eigenschaft, wie Miesmacher, Schlepptosaurus oder eine fiktive Person: Papa Schlumpf sein. Ich fand Ilsebill. Der Charakter aus dem Grimm-Märchen passte perfekt, und der Name klang für mich irgendwie witzig. So hatte ich keine Angst mehr vor dieser Stimme, wenn sie sich zu Wort meldete.

Allmählich ließ ich mich auf einen inneren Dialog mit Ilsebill ein. Aber nicht ohne mein inneres Team2, zu dem Ilsebill nun auch gehörte. Ich aktivierte ganz bewusst meine weiteren Persönlichkeitsanteile, wie Humor, Freundlichkeit, Toleranz, Optimismus, Skepsis usw. Ähnlich wie eine gut geführte Teamsitzung hörte ich jeder Stimme zu. Auch Ilsebills. Jedoch achtete ich darauf, ihr nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als meinen anderen Persönlichkeitsanteilen.

Dies ermöglichte mir, Ilsebills Einfluss auf mich einzudämmen. Wenn ich jetzt einen inneren Dialog führe und Ilsebill sich zu Wort meldet, handle ich, wie jede gute Teamleiterin handeln würde. Ich bin mir bewusst, dass ich das letzte Wort habe und die Sitzung nach meinen Regeln verlaufen muss. Ich stelle Ilsebill immer freundlich zwei einfache Fragen, die der persische Dichter und Philosoph Rumi empfiehlt:

  • Ist Deine Kritik notwendig?
  • Ist Deine Kritik wahr?

Die (erste) Frage nach der Evidenz hilft mir die konkrete Situation aus einer nicht bewertenden Perspektive im Hier und Jetzt „wahr“-zunehmen:

Die Kritik von Ilsebill ist meist allgemein und nicht spezifisch. Außerdem beschafft sie sich ihre Informationen aus der Vergangenheit. (Woher will sie wissen, dass ich keine wilden Träume habe 😊).

Es lohnt sich also zu fragen, auf welchen Grundlage diese Aussagen basieren.
Woher weiß unsere Kritikerin das? Teilen andere, wohlgesonnene Personen auch diese Meinung?

Die zweite Frage betrifft die Implikation und Sinnhaftigkeit der Kritik. Hier frage ich:

  • Was ist das Schlimmste, was passieren kann?
  • Mache ich die Dinge schlimmer, als sie sind?

Wenn es gute Gründe für Ilsebills Warnung gibt, kann man sich besser auf eine Lösungsstrategie konzentrieren, statt in eine Schockstarre zu verfallen. Das Konzentrieren auf eine Lösung gibt mir ein Gefühl von Macht und Kontrolle über die Situation. Ich fühle mich dann nicht mehr hilflos, und eine natürliche innere Harmonie stellt sich ein.

Mit Hilfe dieser einfachen Tricks (Namensgebung, Inneres Team, zwei Fragen) habe ich die Kritiken von Ilsebill entkräftet. Ihre Stimme ist nun auf eine gesunde Lautstärke reduziert und klingt nicht mehr niederschmetternd.


Mein Fazit ist, dass wir uns nicht „ent-wickeln“ können, wenn wir in unserer Unzulänglichkeit „eingewickelt“ bleiben. Sicher könnten und sollten wir nicht Probleme leichtsinnig beiseiteschieben oder sie ignorieren – aber sollen wir z.B. kein Fahrrad fahren, nur weil die Möglichkeit besteht, einen Unfall zu bauen?

Unsere Handlungen und Entscheidungen sollten unsere Hoffnungen und nicht unsere Ängste widerspiegeln (Nelson Mandela). Die ungebändigte Stimme unseres inneren Kritikers hält uns in unserer Entwicklung zurück. Sie beraubt uns der Courage und der Zuversicht, die wir brauchen, um unser Potenzial zu entfalten. Uns zu erlauben, Träume zu haben, die außerhalb unserer momentanen Reichweite liegen, gehört zur Definition des Menschseins. Und um nichts anderes geht es in dem schönen Gedicht von Marianne Williamson:

Unsere größte Angst ist nicht, unzulänglich zu sein.
Unsere größte Angst besteht darin, unermesslich mächtig zu sein.
Unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, ängstigt uns am meisten.
Wir fragen uns, wer bin ich überhaupt,
um strahlend, bezaubernd, begnadet und phantastisch sein zu dürfen?
Wer bist du denn, dass du das nicht sein darfst?
Du bist ein Kind Gottes.
Es dient der Welt nicht, wenn du dich klein machst.
Sich herabzusetzen, nur damit unsere Mitmenschen sich nicht verunsichert fühlen,
hat nichts mit Erleuchtung zu tun.
Uns allen ist es bestimmt, wie Kinder zu strahlen.
Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes in uns zu verwirklichen.
Es ist nicht nur in einigen Menschen, sondern in jedem von uns.
Und wenn wir unser Licht leuchten lassen,
geben wir damit anderen unwillkürlich die Erlaubnis, dasselbe zu tun.
Wenn wir losgelöst sind von unserer eigenen Angst,
wird unsere Anwesenheit andere befreien – ganz ohne unser Zutun.

Dies und weitere Tipps finden Sie in meinem zweitägigen Ikigai-Kurs oder in Einzel-Coachings.

Autorin: Khatoun Shahrbabaki

Quellen

1: Eine Hauptfigur in dem Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“ der Brüder Grimm
2: Friedemann Schulz von Thun (2003): Miteinander reden. Bd.3: Das „innere Tam“ und situationsgerechte Kommunikation. Hamburg

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