Außer-Gewöhnlich

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Jeder Mensch sucht nach halt.
Dabei liegt der einzige Halt im Loslassen.“
Hape Kerkeling

Es ist Sonntag, ein schöner, warmer Sommertag, wie man es in diesen Breitengraden kaum kennt. Wie üblich, bin ich früher als meine Familie wach und genieße die morgendliche Ruhe, bevor die Langschläfer einer nach dem anderen in die Küche marschieren und nach ihrem Frühstück verlangen.

Ich mache mich in aller Ruhe an die Arbeit, räume die Spülmaschine aus, fange an den Frühstückstisch zu richten, und überlege, ob ich den Tisch heute mit dem grünen oder weißen Geschirr decken soll. Noch in Gedanken versunken höre ich ein lautes Summen.
Ich blicke mich um und entdecke neben der Glastür eine völlig erschöpfte Libelle, die auf dem Boden liegt. Mit der wenigen Energie, die ihr noch geblieben ist, fliegt sie immer wieder mit voller Kraft gegen die Scheibe und wundert sich, warum die Dreifachverglasung nicht wie die Luft nachgibt!

Ich seufze. Es ist nicht das erste Mal, dass Libellen sich in unser Wohnzimmer verirren. Ich habe sie schon oft dabei beobachtet, wie sie an der Fensterscheibe verzweifeln und die Existenz dieser für sie unsichtbaren Barriere nicht akzeptieren können.

Die Situation erinnert mich an den Spruch, der Einstein nachgesagt wird:
„Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und trotzdem andere Ergebnisse zu erwarten.“

Sogar wenn ich versuche die Libellen in Richtung der offenen Tür zu lenken, wehren sie sich. Das „Richtige“ fühlt sich für sie „falsch“ an, weil es sich so sehr von ihrer Sinneswahrnehmung und Erfahrung unterscheidet.

Ich nehme unsere große Plastikzange und versuche ihre Flügel so behutsam wie möglich zu fassen und die Libelle so in die Freiheit zu entlassen. Geschafft.

Dieses Ereignis bringt mich immer wieder zum Nachdenken. Geht es uns nicht auch oft so, dass wir mit dem Kopf durch die Wand wollen und uns wundern, warum unsere bewährte und gewohnte Strategie nicht funktioniert?

Selbst wenn wir uns der Unwirksamkeit unserer Strategie bewusst sind, verharren wir in einer Situation, die uns nicht gut tut. Für Menschen, die von diesem Verhaltensmuster nicht betroffen sind, ist dieses Phänomen schwer nachvollziehbar: Der Trinker hat Kummer und um seinen Kummer zu vergessen, trinkt er noch mehr.

Ähnlich wie die Libelle in unserem Wohnzimmer, die sich mit aller Kraft dagegen wehrte, zu der offenen Tür gelenkt zur werden, schlagen wir in stressigen Situationen vertraute Pfade ein und haften an unseren Glaubenssätzen.

Sind wir also, wie die Libellen, hoffnungslose Fälle, die unsere Krisen nur mit Hilfe von Außen bewältigen können?

Dem gegenüber stehen unzählige Fallbeispiele in der Menschheitsgeschichte, die genau das Gegenteil zeigen. Der Mensch ist durchaus in der Lage, seine Ängste zu überwinden und sich aus einer noch so verzweifelten Lage selbst zu befreien.

Diesem Verhalten zugrunde liegende Strategie ist alt bekannt: Wir beruhigen uns und nehmen unsere Situation ohne Angst, mit einer offenen, nicht von alten Mustern geprägten Haltung wahr. Anders gesagt: Wir werden achtsam.

Jon Kabat-Zinn, emeritierter Professor an der University of Massachusetts Medical School, der als Vater der modernen Achtsamkeitsbewegung gilt, definiert Achtsamkeit als eine besondere Qualität der Aufmerksamkeit:

„Achtsamkeit ist das Bewusstsein, das entsteht, indem man seine Aufmerksamkeit absichtsvoll auf den gegenwärtigen Moment ausrichtet, ohne zu werten.”
Jon Kabat-Zinn

Erst diese Haltung ermöglicht es uns, eine Situation neu zu bewerten und kreative Strategien zu entwickeln.

Zwei der neun Grundpfeiler der Achtsamkeit nach Jon Kabat-Zinn sind Loslassen und Akzeptanz.

Sie bilden die ersten notwendigen Schritte für eine Änderung unseres Verhaltens.

Wenn wir unsere Wahrnehmung schärfen, sind wir eher in der Lage über unser Verhalten zu reflektieren. Wir können einfacher über unser Verlangen oder Verhalten reflektieren und einfach loslassen. Beim Loslassen entscheiden wir uns bewusst, unsere Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten. Genauso wie jedes Ausatmen Platz macht für das neue Einatmen, das uns mit Energie und Lebendigkeit erfüllt, genauso öffnet das Loslassen neue Perspektiven. Dies ermöglicht uns, genügend Klarheit zu verschaffen, um zu wissen, was zu tun ist.

„Die Ereignisse kommen nicht, sie sind da, und wir begegnen ihnen auf unserem Wege“.
Sir Arthur Stanley Eddington

Akzeptanz ist die höhere Stufe des Loslassens. Während wir uns beim Loslassen von unseren Glaubensätzen lösen, geben wir der Akzeptanz den Unwägbarkeiten des Lebens einen Raum. Wir nehmen das Leben so an, wie es ist.

Wir akzeptieren unsere Herausforderungen als etwas, das zum Leben gehört. Dies ermöglicht es uns, unser Handeln neu auszurichten. Durch Akzeptanz wachsen wir und können den für uns passenden Weg finden, der oft nicht geradlinig verläuft.

„Viele Menschen glauben, dass, wenn man etwas akzeptiert, man es nicht verändern könne, aber das Gegenteil ist der Fall. Nur das radikale Akzeptieren der Gegebenheiten in unserem Leben erlaubt uns eine Veränderung.“
Marsha Linehan

Akzeptieren heißt nicht, sich einzureden, es wird schon irgendwie weitergehen (das wäre Naivität). Wir erkennen die Umstände einfach an. Wir müssen sie weder mögen noch bekämpfen, wir müssen sie nur annehmen.

  • Manchmal müssen wir akzeptieren, dass wir nicht so erfolgreich sind, wie es uns unserer Meinung nach zusteht.
  • Manchmal müssen wir die Vergangenheit loslassen, in der wir nicht so geliebt worden sind, wie wir es uns gewünscht haben.
  • Manchmal müssen wir akzeptieren, dass wir zu einer Gruppe nicht dazugehören, egal wie sehr wir uns um deren Gunst bemühen.

Das, was uns von der Libelle in unserem Wohnzimmer unterscheidet, ist, dass wir außer-gewöhnliche Wege einschlagen können. Wir haben die Wahl. Ein neuer Weg ist oft so anders, als wir es gewohnt sind. Ein neuer Weg kann uns stark verunsichern und sich falsch anfühlen.

Das Geheimnis der Akzeptanz ist Übung. Akzeptanz ist kein Verhalten, das in unseren Genen vorprogrammiert ist. Es ist auch nicht gleichbedeutend mit Zufriedenheit oder mit Zustimmung. Es ist eher ein Anerkennen dessen, was ist.

Deshalb üben wir den ersten Schritt: Wir entscheiden uns dafür. Trotz des Schmerzes.

Und dann entscheiden wir uns immer wieder dafür.

Der antike Philosoph Epiktet soll zu seinen Schülern gesagt haben:

„Wir können die Dinge nicht immer ändern, aber wir können unsere Haltung gegenüber den Dingen ändern.“

Und wenn Sie sofort üben möchten, dann probieren Sie eine schöne Mikropraxis aus dem Search Inside Yourself Kurs:

“Ich atme ein, ich tue mein Bestes.
Ich atme aus, ich lasse alles andere los.”

Dies und weitere Tipps finden Sie in meinem zweitägigen Ikigai-Kurs oder in Einzel-Coachings.

Autorin: Khatoun Shahrbabaki

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