Bestimmung

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Der Sinn des Lebens
besteht darin,
deine Gabe zu finden.
Der Zweck des Lebens ist,
sie zu verschenken.
Pablo Picasso (1881-1973) spanischer Maler, Grafiker und Bildhauer

Vor langer Zeit lebte in den Tiefen des Amazonas ein kleiner Vogel. Dorfbewohner hatten das völlig entkräftete Küken in der Nähe des Meers gefunden und es der Heilerin ihres Dorfs übergeben. Die Heilerin päppelte es auf und gab ihr den Namen Pin-Wing.

Voller Dankbarkeit bemühte sich Pin-Wing, sich in ihre neue Umgebung einzufügen. Neugierig erkundete sie ihren neuen Lebensraum. Hier war das Wetter schwül und die Vögel bunt. Mit der Zeit gewöhnte sich Pin-Wing an ihre neue Heimat und ihre wenigen Erinnerungen an ihr altes Zuhause verschwanden.

Eines Tages sagte die Heilerin: Pin-Wing, du bist jetzt alt genug, um in die Schule zu gehen. 

Am nächsten Tag in der Schule war alles sehr aufregend. Küken aller möglichen Altersstufen drängten sich, vorne in der ersten Reihe Platz zu nehmen. Der Lehrer war nett aber sehr streng. Er bemühte sich sehr, gerecht zu sein und alle gleich zu behandeln. 

Pin-Wing lernte fleißig und befolgte alles, was der Lehrer sagte. So war ein wichtiger Grundsatz:“

Unsicherheit, Lebenssinn, neue Perspektive

Vermeidet das Wasser. Ist ein Vogel erst einmal nass, ist er viel zu schwer um davonfliegen zu können. Dadurch wird er eine leichte Beute für all die Raubtiere, die hier herumschleichen. Wir sind schließlich keine Fische. Unser Element ist die Luft.

Pin-Wing stimmte ihrem Lehrer voll und ganz zu. Sie hatte eine panische Angst vom Wasser. 

Anschließend sagte der Lehrer: „Nun bereitet Euch auf euren ersten Flug vor“.
Eifrig legte sich Pin-Wing auf dem Bauch, während alle anderen ihre Beine spannten um zu springen. Die ganze Klasse lachte sie aus. 

Sie lief weinend nach Hause und erzählte alles der Heilerin. Diese tröstete sie:

Ach Pin-Wing, das sind nur junge Küken, die es nicht besser wissen. Weißt Du, als ich so jung war wie Du, wollte ich genauso sein wie die anderen. So schön zwitschern wie die Singvögel, so zierlich fein sein wie der flinke Kolibri. Wie Du siehst, sind ausgewachsene Raben eher kräftig gebaut und besonders schöne Laute geben ihre Stimmbänder auch nicht her. Als Küken sah ich dies aber anders. Ich dachte, wenn ich nur genug abnähme, würde ich auch so bewundert werden wie der Kolibri. Je mehr ich es versuchte, desto lächerlicher machte ich mich. Ich war so traurig und enttäuscht von mir und schämte mich fürchterlich für meinen kräftigen, langen Schnabel. Daraufhin  bin ich immer wieder aus dem Dorf herausgeflogen. Bei meinen Erkundungstouren habe ich viel beobachten können. So habe ich gesehen, welche Kräuter und Beeren Schimpansen essen, wenn sie Durchfall haben, wo die Eichhörnchen Nüsse verstecken und wie die Affen sie ausgraben und knacken. Ich entwickelte ein enormes Wissen und teilte es mit meinen wenigen Freunden. Allmählich kamen immer mehr Leute zu mir um zu fragen, wo welche Pflanze wächst oder was bei Bauchschmerzen helfen kann. 

Weißt Du, der Sinn des Lebens besteht darin, Deine Gabe zu finden und dies anderen zu schenken. Ich erkannte, dass ich am besten bin, wenn ich ich bin. Wenn Du andere nachahmst, bleibt Dir keine Zeit und Energie, um zu erfahren, wie besonders Du sein kannst. Heute werde ich im ganzen Dorf für meine Fähigkeiten geachtet und geschätzt. Meine vermeintlichen Schwächen verwandelten sich in meine Stärke, als ich sie annahm.

Pin-Wing verstand nicht so recht, was die Heilerin ihr damit sagen wollte, außer, dass sie Geduld mit sich haben solle, was ihr jedoch sehr schwerfiel.

Mit der Zeit wurde sie in der Schule immer trauriger. Oft versteckte sich Pin-Wing in den Pausen in einer Ecke, damit die anderen sie nicht sehen konnten. Eines Tages hörte sie, wie das Huhn sich mit dem Pfau über sie unterhielt:

Wenn Fettgans nur abnehmen würde, dann könnte sie auch fliegen. 

Sie ist so faul. Sie muss wie Albatros richtig Anlauf nehmen. Bei dem hat das Fliegen ja auch funktioniert.

Sie ist eine Last für uns. Ihretwegen können wir nirgendwo mit der Klasse hinfliegen. 

Bis dahin hatte sie nicht geahnt, dass es ihretwegen keinen Schulausflug gab. Sie hasste sich dafür, dass sie so war, wie sie war. Sie rannte so schnell, wie ihren kleinen Füßen sie tragen konnten, tief in den Dschungel davon. Ihr Gesicht war von Tränen überströmt und ihr Kopf drehte sich. Ihre Füße waren wund und ihr war schwindelig. Plötzlich rutschte sie aus und fiel durch ein tiefes Loch in eine unterirdische Höhle. Dort verlor sie das Bewusstsein und fiel in Ohnmacht.

Als sie am nächsten Tag erwachte, bemerkte sie sofort, dass es hier ganz anders war als im Dschungel. „Die Luft war erstaunlich kalt. Es gab nur wenig Licht und es herrschte eine angenehme Ruhe. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben schwitzte Pin-Wing nicht. Sie war froh, dass sie den Sturz unbeschadet überlebt hatte, also war ihr Fett doch für etwas gut. Der Boden unter ihren Füßen war weich und angenehm feucht. Sie hatte auf einmal Lust sich einfach auf den Bauch zu legen und so den Gang herunter zu rutschen. Hier konnte keine über sie spotten. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Spaß. Je weiter sie sich vordrang umso größer wurde der unterirdische Gang. Plötzlich erreichte sie eine riesige unterirdische Halle 

Sichtlich verwundert über den Anblick, hielt sie inne. Vor ihr lag ein kristallklarer, unterirdischer See.

Sie war gleichzeitig fasziniert, neugierig und verängstigt. Ihr ganzer Körper zitterte und ihr Herz klopfte so laut, dass ihre Ohren von Innen her bebten. Die Luft hier unten schmeckte nach etwas Vertrautem, an das sie sich jedoch nicht erinnern konnte. Noch nie zuvor in ihrem Leben war sie so hingerissen. Eine Stimme in ihrem Kopf mahnte: „Du darfst nicht ins tiefe Wasser gehen“. Eine andere Stimme hingegen drängte sie voller Sehnsucht, Kopf über ins Wasser zu springen und unterzutauchen.

Ja, ich muss es wagen“, hörte sie sich laut sagen. „Ich bin wohl übermütig geworden!“ und sprang ins kühle Wasser. 

Sie hielt die Luft immer noch an und rechnete jeden Moment damit, wie ein nasser Sack auf den Boden zu sinken. Als dies nicht geschah, öffnete sie ihre Augen. Sie tauchte, als ob sie ihr ganze Leben nichts anderes getan hätte. Endlich konnte sie sich so geschmeidig und elegant bewegen, wie sie es immer bei den anderen bewundert hatte. Es war ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Sie brauchte sich kaum anzustrengen und über ihre Bewegungen nachzudenken. Es floss von selbst. Zum ersten Mal schämte sie sich nicht für ihren Körper. Ihr spindelförmiger Körper mit seinem kurzen Flügel war wie geschaffen, um sich im Wasser fortzubewegen und nicht in der Luft. Nun verstand sie endlich, was die Heilerin meinte. Sie hatte ihren Platz gefunden.Hier nun kam ihr „Können“ mit ihrem „Wollen“ in Einklang. Ihre Schwächen verwandelten sich in ihre Stärke.

Autorin: Khatoun Shahrbabaki

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